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Enzyklika Humani generis
Über
verschiedene falsche Meinungen, die die Grundlagen
der katholischen
Lehre bedrohen.
Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 12. August 1950 von Papst Pius XII.
Daß die Menschheit in ihren religiösen und sittlichen Anschauungen so uneins ist und so viele Irrwege geht, ist immer der Schmerz aller rechtlich Denkenden gewesen, zumal aber der Gläubigen, die der Kirche aufrichtig ergeben sind. Sie fühlen ihn heute um so mehr, da die christliche Kultur bis in ihre Grundlagen hinein von allen Seiten Angriffen ausgesetzt ist.1
2 Dabei ist nicht zu verwundern, daß außerhalb der Kirche Christi jederzeit solche Uneinigkeit und solche Irrungen geherrscht haben. Zwar ist an und für sich die menschliche Vernunft fähig, mit ihrer natürlichen Erkenntniskraft ein wahres und sicheres Wissen um den einen persönlichen Gott zu gewinnen, der durch seine Vorsehung die Welt schützt und regiert; ebenso ist ihr das vom Schöpfer unseren Herzen eingeschriebene natürliche Sittengesetz zugänglich. Aber tatsächlich stehen der erfolgreichen Betätigung dieser naturgegebenen Erkenntnisfähigkeit viele Hemmnisse entgegen. Denn die Wahrheiten von Gott und von dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch übersteigen den Bereich der sinnenfälligen Dinge, und sie verlangen persönliche Hingabe und Selbstverleugnung des Menschen, wenn sie in seinem Tun und Leben gestaltende Macht werden sollen. Sobald aber die Vernunft Wahrheiten dieser Art erfassen soll, ist sie durch den Einfluß der Sinne und der Phantasie behindert, wie auch durch die Folgen der bösen Begierlichkeit, die aus der Erbsünde stammt. Deshalb sind die Menschen in derartigen Fragen sehr geneigt, sich das als falsch oder wenigstens als zweifelhaft einzureden, was sie nicht wahrhaben wollen.
3 Aus diesen Gründen ist eine göttliche Offenbarung moralisch notwendig, damit alle Menschen jene religiösen und sittlichen Wahrheiten, die an sich der Vernunft nicht unzugänglich sind, auch in der gegenwärtigen Lage der Menschheit leicht, sicher und ohne Irrtum erkennen können 1.
4 Mitunter kann es dem menschlichen Geiste sogar Schwierigkeiten machen, zu einem sicheren Urteil über die Glaubwürdigkeit des katholischen Glaubens zu kommen. Gott hat zwar eine Fülle wunderbarer äußerer Zeichen bereitgestellt, aus denen schon durch das natürliche Licht der Vernunft der göttliche Ursprung der christlichen Religion mit Sicherheit erwiesen werden kann. Aber aus vorgefaßten Meinungen oder aus einer verkehrten, von Leidenschaft beeinflußten Willensrichtung heraus ist der Mensch imstande, sich nicht nur der zwingenden Beweiskraft der äußeren Zeichen zu verschließen, sondern auch den Anregungen Widerstand zu leisten, in denen Gott zu unserem Inneren spricht.
5 Bei der Prüfung der geistigen Strömungen außerhalb der Kirche Christi lassen sich unschwer bestimmte Hauptrichtungen des wissenschaftlichen Denkens erkennen. Die Entwicklungslehre wird von manchen ohne die gebotene Vorsicht und Unterscheidung zur Erklärung des Ursprungs aller Dinge überhaupt ausgeweitet, obwohl sie bis zur Stunde selbst im engeren naturwissenschaftlichen Bereiche noch nicht unwiderleglich bewiesen ist; so huldigt man selbstgewiß einer monistischen und pantheistischen Vorstellung, die das Weltall in einem ewigen Entwicklungsprozeß begriffen sieht. Diese Anschauung machen sich die Anhänger des Kommunismus mit Freuden zunutze, um ihren dialektischen Materialismus mit um so größerem Erfolg zu verbreiten und zur Anerkennung zu bringen; damit reißen sie jeden Gedanken an einen persönlichen Gott aus den Herzen.
6 Dieses Entwicklungsdenken, das alles Absolute, Feststehende, Unveränderliche verwirft, hat einer neuen, irrigen Philosophie den Weg bereitet, die den Idealismus, Immanentismus und Pragmatismus noch zu überbieten sucht. Sie trägt den Namen „Existentialismus“, da sie die unveränderlichen Wesenheiten der Dinge außer acht läßt und nur der „Existenz“ des Einzelnen ihre Aufmerksamkeit schenkt.
7 Dazu kommt ein falscher Historizismus, der allein das Geschichtliche im menschlichen Dasein sieht und absolute Wahrheit und bleibendes Gesetz grundsätzlich leugnet. Man führt diese Betrachtungsweise in der Deutung philosophischer Wahrheiten durch und wendet sie auch auf die Dogmen des Christentums an.
8 Bei dieser Verwirrung der Ansichten ist es ein tröstlicher Anblick für Uns, zu sehen, wie manche, die in den Anschauungen des Rationalismus groß geworden sind, sich heute um die Rückkehr zu einem tieferen Verständnis der geoffenbarten Wahrheit bemühen und das in der Heiligen Schrift niedergelegte Wort Gottes rückhaltlos als Grundlage der Theologie anerkennen. Leider meinen aber nicht wenige von ihnen, den engen Anschluß an das Wort Gottes nur durch die Herabsetzung der menschlichen Vernunft gewinnen zu können, und ihre bereitwillige Bejahung der Autorität des offenbarenden Gottes ist mit um so schärferer Ablehnung des kirchlichen Lehramtes verbunden, das Christus der Herr zum Schutze und zur Auslegung der geoffenbarten Wahrheiten eingesetzt hat. Darin liegt nicht nur ein offener Widerspruch mit der Heiligen Schrift; auch die Erfahrung erweist es als irrig. Denn oft beklagen die von der wahren Kirche Getrennten selbst freimütig ihre Uneinigkeit in dogmatischen Lehren und erkennen damit ungewollt die Notwendigkeit des lebendigen Lehramtes an.
9 Die katholischen Theologen und Philosophen haben die verantwortungsvolle Aufgabe, die Wahrheit, mag sie aus der Offenbarung Gottes oder aus menschlicher Vernunfteinsicht stammen, zu verteidigen und den Menschen nahezubringen. Deswegen dürfen ihnen die genannten, vom geraden Wege mehr oder weniger abweichenden Anschauungen weder unbekannt noch gleichgültig bleiben. Sie haben vielmehr ihre genaue Kenntnis notwendig; einmal, weil man Krankheiten nur sachgemäß behandeln kann, wenn man sie richtig erkannt hat, sodann, weil mitunter auch in falschen Ansichten ein Wahrheitskern enthalten ist, und schließlich, weil von ihnen der Anstoß ausgeht, bestimmte philosophische oder theologische Wahrheiten gründlicher zu erforschen und zu durchdenken.
10 Wenn unsere Philosophen und Theologen diesen Lehren nur um des eben genannten Ergebnisses willen ein vorsichtig abwägendes Studium widmeten, so hätte das kirchliche Lehramt keinen Grund, dagegen Einspruch zu erheben. Wir wissen mit Bestimmtheit, daß die katholischen Gelehrten im allgemeinen den angeführten falschen Theorien mit der notwendigen Zurückhaltung gegenüberstehen. Ebenso gewiß aber gibt es heute, wie schon in der apostolischen Zeit, Männer, die aus einer übermäßigen Bewunderung moderner Ideen oder auch aus Furcht, etwa für wissenschaftlich rückständig zu gelten, geneigt sind, sich der Leitung des kirchlichen Lehramtes zu entziehen, und infolgedessen in der Gefahr schweben, allmählich, ohne es zu merken, mit der von Gott geoffenbarten Wahrheit in Widerspruch zu geraten und andere mit sich in Irrtum zu führen.
11 Noch eine andere Gefahr besteht, und sie ist um so größer, je mehr sie sich unter dem Scheine des Guten verbirgt. Angesichts der beklagenswerten Zerrissenheit und geistigen Verwirrung der Menschheit fühlt man sich aus einer nicht genügend geklärten seelsorglichen Verantwortung heraus zu dem lebhaften Verlangen gedrängt, die Schranken niederzulegen, die sich trennend zwischen gutgläubigen, wohlmeinenden Menschen aufgerichtet haben. So kommt man zu einem „Irenismus“, einer falschen Friedensliebe um jeden Preis. Man stellt geflissentlich alle Fragen beiseite, in denen die verschiedenen Gruppen auseinandergehen; dadurch will man nicht nur eine gemeinsame Front gegen den Einbruch des Atheismus bilden, sondern auch zu einer Vermittlung der dogmatischen Gegensätze gelangen. Wie früher die Frage laut wurde, ob die herkömmliche Methode der kirchlichen Apologetik für die Gewinnung der Außenstehenden nicht eher ein Hemmnis als eine Hilfe bedeute, so wird heute in gewissen Kreisen ohne Scheu ernstlich darüber verhandelt, ob nicht die Theologie mit ihrer Methode, wie sie in den theologischen Schulen mit Gutheißung der kirchlichen Obrigkeit gepflegt wird, nicht nur einer Verbesserung, sondern einer grundlegenden Neugestaltung bedürfe, wenn das Reich Christi auf der ganzen Welt, unter Menschen jeder Kultur und jeglicher religiöser Anschauungsweise mit größerem Erfolg ausgebreitet werden soll.
12 Solche Reformpläne gäben keinen Grund zu ernstlichen Befürchtungen, wenn sie nur darauf abzielten, die kirchliche Wissenschaft und ihre Methode durch geeignete Verbesserungen den Erfordernissen der gegenwärtigen Lage anzupassen. In ihrem unklugen und ungeduldigen Irenismus erblicken aber manche ein Hemmnis für die Wiedervereinigung in dem, was zu den wesentlichen Grundsätzen und Einrichtungen gehört, die Christus selbst gegeben hat, oder was Bollwerk und Stütze der Reinheit des Glaubens bildet. Wenn das fällt, hat man zwar Einheit; aber nur auf einem gemeinsamen Trümmerfelde.
13 Neue Anschauungen dieser Art, die vielleicht aus verkehrtem Reformeifer, vielleicht aus anerkennenswerten Absichten entspringen, werden nicht immer in gleichem Umfange, mit derselben Deutlichkeit oder mit den nämlichen Worten vorgetragen. Man ist sich darüber auch gar nicht unbedingt einig; denn was der eine oder andere heute mit Vorbehalten und Unterscheidungen unter verhüllten Ausdrücken sagt, wird morgen von anderen, die weniger Bedenken haben, ganz offen und ungehemmt vorgebracht, zum Argernis für viele, besonders im jüngeren Klerus, und zum Schaden der Autorität in der Kirche. Was man in Büchern, die an die Öffentlichkeit kommen, im allgemeinen mit Vorsicht behandelt, wird in Manuskripten, die von Hand zu Hand weitergegeben werden, in Vorlesungen und Aussprachekreisen rückhaltloser gesagt. Dabei gehen solche Ansichten nicht nur bei Angehörigen des Welt- und Ordensklerus, in Priesterseminarien und Ordensschulen um, sondern sie werden auch unter Laien, besonders in der Lehrerschaft verbreitet.
14 In der Theologie geht man darauf aus, den Sinn der Dogmen möglichst abzuschwächen; man will das Dogma von der in der Kirche seit langem verwandten Ausdrucksweise und von den gebräuchlichen philosophischen Begriffen frei machen, um bei der Auslegung der katholischen Lehre zur Sprache der Heiligen Schrift und der Väter zurückzukehren. Dabei ist die Erwartung maßgebend, man werde über das von allen sogenannten offenbarungsfremden Bestandteilen gereinigte Dogma mit den von der kirchlichen Einheit Getrennten und ihren dogmatischen Anschauungen in ein fruchtbares Gespräch kommen, und man hofft, auf diese Weise langsam zu einer gegenseitigen Angleichung des katholischen Dogmas und der Auffassungen der Andersgläubigen zu gelangen.
15 Darüber hinaus glaubt man, mit dieser Umgestaltung der katholischen Lehre die Möglichkeit zu gewinnen, den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechend auch Begriffsprägungen der modernen Philosophie zum Ausdruck des Dogmas zu verwenden, mag man an Immanentismus, Idealismus, Existentialismus oder noch andere Richtungen denken. Diese Möglichkeit oder auch Notwendigkeit ist nach Ansicht derer, die sich am meisten vorwagen, darin gegeben, daß die Geheimnisse des Glaubens niemals in Begriffen ausgedrückt werden können, die sie gemäß der Wahrheit wiedergeben, sondern nur in immer wandelbaren „Näherungsbegriffen“, durch die die Wahrheit zwar irgendwie angedeutet, notwendig aber auch umgedeutet werde. Sie halten es darum nicht etwa für widersinnig, sondern im Gegenteil für unvermeidlich, daß die Theologie im Laufe der Zeit ihr gedankliches Rüstzeug von verschiedenen Philosophien entlehne und die alten Begriffe durch immer neue ersetze; die Theologie lasse also die gleichen göttlichen Wahrheiten unter je anderen, vielleicht sogar irgendwie entgegengesetzten und doch gleichwertigen Formen in menschliche Begrifflichkeit eingehen. Es sei deshalb auch Aufgabe der Dogmengeschichte, die mannigfaltigen, sich einander ablösenden Gestalten zu beschreiben, in die sich die offenbarte Wahrheit je nach den Ideen und der Denkweise der einzelnen Zeitalter gekleidet habe.
16 Nach dem bisher Gesagten ist klar, daß derartige Versuche nicht nur zum Relativismus in der Dogmatik führen, sondern bereits Relativismus sind. Schon in der Geringschätzung der überlieferten Theologie und ihrer wissenschaftlichen Sprache liegt eine starke Begünstigung relativistischen Denkens. Natürlich ist es unbestritten, daß eine Terminologie, wie sie im theologischen Unterricht oder auch in den Dokumenten des kirchlichen Lehramtes verwandt wird, der Vervollkommnung und Verfeinerung fähig ist; bekannt ist auch, daß die Kirche dieselben Worte nicht immer im gleichen Sinne gebraucht hat. Es ist ebenfalls einsichtig, daß die Kirche sich nicht an jedwede Modephilosophie binden lassen kann. Aber die Philosophie, welche die einmütige Arbeit katholischer Denker im Laufe von Jahrhunderten geschaffen hat, um das Verständnis des Dogmas nach dem Maße des Möglichen zu erschließen, ruht wahrhaftig nicht auf so schwachem Grunde. Sie beruht nämlich auf Prinzipien und Begriffen, die aus sachgerechter Erkenntnis der geschaffenen Dinge hergeleitet sind; bei der Entwicklung dieser Erkenntnisse hat zudem die geoffenbarte Wahrheit dem menschlichen Geiste durch Vermittlung der Kirche wie ein Stern vorangeleuchtet. Es liegt infolgedessen nichts Erstaunliches in der Tatsache, daß einige dieser Begriffe von Allgemeinen Konzilien nicht nur übernommen, sondern bestätigt und damit verbindlich gemacht worden sind.
17 Unter den Augen des kirchlichen Lehramtes, vom Heiligen Geiste geführt und erleuchtet haben Männer, hervorragend an Geist und von außergewöhnlicher Heiligkeit, jahrhundertelang an diesem Wissensgute gearbeitet; in Begriff und Ausdruck nach vollendeter Klarheit ringend, haben sie es geschaffen, um den Wahrheiten des Glaubens eine immer genauere Fassung zu geben. Alles das will man unbeachtet lassen, preisgeben oder als wertlos erklären. An seine Stelle denkt man andeutungsweise umrissene Begriffe und fließende, unscharfe Redeweisen einer neuen Philosophie zu setzen, die wie die Blumen des Feldes heute blühen und morgen welken. Ein solches Vorgehen ist nicht nur unklug im höchsten Maße; es würde überdies das Dogma selbst einem Rohre vergleichbar machen, das im Winde hin- und herschwankt. Die Verachtung der gebräuchlichen scholastischen Termini und Begriffe führt wie von selbst zur inneren Entkräftung der spekulativen Theologie. Übrigens bestreitet man dieser Theologie wegen der theologischen Vernunftgründe, mit denen sie arbeitet, überhaupt einen eigentlichen Erkenntniswert.
18 Leider ist es so, daß die Verfechter derartiger neuer Ideen von der Mißachtung der scholastischen Theologie leicht dazu übergehen, die Außerungen des kirchlichen Lehramtes selbst, das mit solchem Nachdruck für diese Theologie eintritt, großzügig zu übergehen oder sogar geringschätzig beiseite zu schieben. Sie stellen das Lehramt als Hemmschuh des Fortschrittes und als Einengung wissenschaftlichen Lebens hin; in bestimmten Kreisen außerhalb der Kirche betrachtet man seine Weisungen schon als ungerechte Bevormundung, durch die es Theologen von größerem Weitblick daran hindere, in ihrer Wissenschaft neue Wege zu gehen. Nun muß doch das Lehramt der Kirche in Dingen des Glaubens und der Sitten für jeden Theologen die nächste und allgemeine Richtschnur sein; denn es hat von Christus dem Herrn Vollmacht und Auftrag erhalten, die gesamte Glaubenshinterlage, Schrift und Überlieferung, zu bewahren, zu schützen und zu erklären. Daraus ergibt sich für alle Gläubigen die Pflicht, auch die Irrtümer zu meiden, die der Häresie mehr oder weniger nahe kommen, und deshalb „auch die Bestimmungen und Erlasse zu befolgen, in denen solche glaubenswidrigen Meinungen vom Heiligen Stuhl verworfen und verboten sind“ 2. Aber diese Pflicht wird mitunter so wenig beachtet, als ob sie gar nicht bestünde. Die Darlegungen päpstlicher Enzykliken über Wesen und Verfassung der Kirche werden von manchen geflissentlich übergangen, und zwar in der Absicht, einem anderen, reichlich unbestimmten Kirchenbegriffe Eingang zu verschaffen, der angeblich aus den Vätern, vor allem den griechischen, gewonnen ist. Als Rechtfertigung für diese Handlungsweise gibt man vor, die Päpste wollten über die unter Theologen strittigen Fragen keine Entscheidung fällen; deshalb müsse man auf die Quellen zurückgehen und die jüngeren Erlasse des Lehramtes nach den Schriften des kirchlichen Altertums erklären.
19 Dieser Gedankengang scheint vielleicht Sachkunde zu verraten; aber er enthält einen verfänglichen Trugschluß. Es ist richtig, daß die Päpste den Theologen im allgemeinen Freiheit lassen in den Fragen, über welche die Auffassungen bedeutender Gelehrter auseinandergehen; aber die Geschichte zeigt auch in mehr als einem Falle, daß theologische Sätze, die früher zur freien Erörterung standen, zu einem späteren Zeitpunkt solchen Verhandlungen entzogen sind.
20 Falsch wäre die Annahme, daß der Inhalt päpstlicher Rundschreiben an und für sich keine innere Zustimmung beanspruche, da die Päpste in ihnen nicht die Vollgewalt ihres Lehramtes einsetzen. Denn es handelt sich ja um Außerungen des ordentlichen Lehramtes, von dem doch auch das Wort gilt : „Wer euch hört, der hört mich 3.“ Außerdem gehört meistenteils das, was in Enzykliken vorgelegt und eingeschärft wird, schon anderweitig zum Lehrgut der Kirche. Wenn aber Päpste in ihren Schreiben ausdrücklich über eine bisher strittige Frage ihr Urteil fällen, dann kann offensichtlich nach Absicht und Willen der betreffenden Päpste diese Frage nicht mehr als Gegenstand. freier Erörterung unter den Theologen betrachtet werden.
21 Wahr ist auch, daß die Theologen immer auf die Offenbarungsquellen zurückgehen müssen; denn zu ihren Aufgaben gehört der Nachweis, wie die Aussagen des lebendigen Lehramtes in Schrift und Tradition „ausdrücklich oder einschließlich enthalten sind“ 4. Dazu kommt, daß beide Offenbarungsquellen einen solchen Reichtum an Wahrheit enthalten, daß sie niemals ganz ausgeschöpft werden können. Darum gewinnt die Theologie aus dem Studium ihrer Quellen immer wieder jugendliche Kraft, während eine reine Spekulation, die sich um die weitere Durchforschung der Glaubenshinterlage nicht mehr bemüht, erfahrungsgemäß zur Unfruchtbarkeit verurteilt ist. Deshalb kann aber auch die positive Theologie nicht mit sonstigen historischen Wissenschaften in eine Reihe gestellt werden. Denn zugleich mit den Quellen des Glaubens hat Gott seiner Kirche das lebendige Lehramt gegeben zur Erhellung und Entfaltung dessen, was im Glaubensschatze nur dunkel und gleichsam einschlußweise enthalten ist. Nicht den einzelnen Gläubigen und auch nicht den Theologen hat der göttliche Heiland die authentische Erklärung des Glaubensgutes anvertraut, sondern nur dem Lehramt der Kirche. Wenn die Kirche dieses Amtes waltet, wie sie es im Laufe der Jahrhunderte immer wieder getan hat, sei es in ordentlicher oder in außerordentlicher Ausübung ihrer Gewalt, so kann es offenbar nicht der richtige Weg zum Verständnis dieser Lehräußerungen sein, klare Entscheidungen nach früheren, weniger deutlichen Zeugnissen auszulegen, sondern man hat genau umgekehrt voranzugehen. Als deshalb Unser unvergeßlicher Vorgänger Pius IX. es als eine vornehmliche Aufgabe der Theologie bezeichnete, den Nachweis zu erbringen, wie die von der Kirche definierte Lehre in den Glaubensquellen enthalten ist, fügte er bedeutungsvoll die Worte hinzu: „in dem gleichen Sinne, wie sie von der Kirche definiert ist“. -
22 Wir kehren zu den schon berührten neuen Anschauungen zurück. Unter ihnen werden auch Meinungen offen oder verhüllt vorgetragen, die dem vollen Begriffe der göttlichen Urheberschaft der Heiligen Schrift Abbruch tun. Man verkehrt ungescheut den Sinn der Definition des Vatikanischen Konzils über Gott als den Urheber der Heiligen Schrift und bringt die schon mehrfach verurteilte Behauptung wieder vor, die Irrtumslosigkeit der Bibel beziehe sich bloß auf ihre Aussagen über Gott und über sittliche und religiöse Dinge. Ganz zu Unrecht redet man von einem menschlichen Sinne der heiligen Bücher, unter dem der von Gott gemeinte Sinn verborgen sei, der nach ihnen allein unfehlbar ist. In der Ausdeutung der Heiligen Schrift soll unabhängig von der analogia fidei und der Tradition der Kirche vorangegangen werden; das würde heißen, daß die Lehre der Väter und des kirchlichen Lehramtes zu messen sei an der mit den Mitteln menschlichen Wissens arbeitenden Schrifterklärung der Exegeten, statt daß die Schrift ausgelegt wird im Sinne der Kirche, die doch von Christus zur Hüterin und Deuterin des gesamten Offenbarungsgutes gesetzt ist.
23 Außerdem soll den neuen Ideen entsprechend der Wortsinn der Heiligen Schrift und seine von vielen großen Exegeten unter den Augen der Kirche erarbeitete Erklärung einer neuen „symbolischen“ oder „pneumatischen“ Exegese Platz machen. Nur dadurch könnten die Bücher des Alten Testamentes, die heute in der Kirche eine verschüttete Quelle seien, endlich dem allgemeinen Verständnis erschlossen werden. Auf diese Weise sollen sich angeblich alle Schwierigkeiten von selbst lösen, die nur den Anhängern des Wortsinnes der Heiligen Schrift zu schaffen machen.
24 Das alles ist offensichtlich unvereinbar mit den hermeneutischen Grundsätzen und Regeln, die von Unseren Vorgängern, von Leo XIII. in der Enzyklika Providentissimus und von Benedikt XV. in der Enzyklika Spiritus Paraclitus, und von Uns selbst in dem Rundschreiben Divino afflante Spiritu als gültig festgestellt worden sind.
25 Dass solche neuartigen Ideen beinahe in allen Sparten der Theologie schon verhängnisvolle Ergebnisse gezeitigt haben, ist nicht verwunderlich. Man bezweifelt die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, ohne Hilfe der göttlichen Offenbarung und Gnade das Dasein des persönlichen Gottes aus den geschaffenen Dingen zu beweisen; man leugnet den zeitlichen Anfang der Welt; man behauptet die Notwendigkeit der Schöpfung, da sie im notwendigen Schenken der göttlichen Liebe ihren Ursprung habe, man leugnet das ewige, unfehlbare Vorwissen Gottes in Bezug auf die freien Handlungen der Menschen: alles im Widerspruch zu den Entscheidungen des Vatikanischen Konzils 5.
26 Einige haben in Frage gestellt, ob die Engel persönliche Wesen sind, und ob zwischen Geist und Materie ein Wesensunterschied besteht. Andere untergraben den echten Sinn der Ungeschuldetheit der übernatürlichen Ordnung; nach ihnen könnte Gott ein geistbegabtes Wesen nicht schaffen, ohne ihm die Bestimmung und die Berufung zur unmittelbaren Gottesschau zu geben. Damit nicht genug: man übergeht die Definition des Trienter Konzils und verfälscht den Begriff der Erbsünde, den der Sünde als Beleidigung Gottes überhaupt und den der von Christus für die Menschen geleisteten Sühne. Die Lehre von der Transsubstantiation wird wegen ihres Zusammenhanges mit einem angeblich veralteten philosophischen Substanzbegriffe für läuterungsbedürftig erklärt; man will die reale Gegenwart Christi in der Eucharistie symbolisch deuten, insofern die konsekrierten Gestalten nur wirksame Zeichen der geistigen Gegenwart Christi und seiner innigen Verbindung mit den Gläubigen als Gliedern in seinem Mystischen Leibe sein sollen.
27 An die Lehre von der Identität des Mystischen Leibes Christi und der römisch-katholischen Kirche halten sich einige nicht für gebunden, obwohl sie auf den Glaubensquellen beruht und noch vor wenigen Jahren in Unserer Enzyklika dargelegt worden ist 6. Manche erklären die Heilsnotwendigkeit der Zugehörigkeit zur wahren Kirche in einer Weise, die nur eine leere Formel übrig läßt. Andere schließlich setzen die vernunftgemäße Einsichtigkeit herab, die der Glaubwürdigkeit der christlichen Offenbarung eigen ist.
28 Diese und ähnliche Irrtümer haben unmerklich auch bei Söhnen der Kirche Verbreitung gefunden, denen ein unbesonnener Seeleneifer oder der Schein der Wissenschaftlichkeit Anlaß zur Täuschung geworden ist. Mit tiefem Bedauern sehen Wir Uns dazu gezwungen, ihnen altbekannte Wahrheiten zu wiederholen und sie mit ernster Besorgnis auf handgreifliche Irrtümer und Gefahren aufmerksam zu machen.
29 Allgemein ist bekannt, daß die Kirche der menschlichen Vernunft eine hohe Bedeutung beilegt. Nach katholischer Lehre kann die Vernunft das Dasein des einen, persönlichen Gottes mit Gewißheit beweisen; sie kann die Grundlagen des christlichen Glaubens aus göttlichen Zeichen unwiderleglich nachweisen; ebenso vermag sie dem vom Schöpfer den Herzen der Menschen eingeschriebenen Sittengesetz richtigen Ausdruck zu verleihen; schließlich ist sie fähig zu einem zwar begrenzten, aber wirklich fruchtbaren Verständnis der eigentlichen Geheimnisse des Glaubens 7. Sie ist aber nur dann in der Lage, diese Erkenntnisse in entsprechender Weise und mit Sicherheit zu erlangen, wenn sie recht gebildet worden ist. Diese wesentliche Bildung erfährt die Vernunft durch das Vertrautwerden mit der gesunden Philosophie, die seit langem wie ein Erbgut aus früheren christlichen Zeiten unser Besitz ist. Ihr ist ein Ansehen höherer Ordnung darum zu eigen, weil ihre Grundsätze und hauptsächlichen Thesen, in denen die Einsichten und Ergebnisse einer von genialen Denkern vorangetriebenen Entwicklung niedergelegt sind, vom Lehramt der Kirche selbst auf ihre Übereinstimmung mit der Offenbarung geprüft wurden. Diese Philosophie, die in der Kirche Anerkennung und Aufnahme gefunden hat, verteidigt die echte Geltung und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, die unerschütterliche Gültigkeit der metaphysischen Prinzipien, nämlich des Satzes vom zureichenden Grunde, des Kausalitäts- und des Finalitätsprinzips, und schließlich die Erreichbarkeit sicherer und unwandelbarer Wahrheit.
30 Gewiß berührt eine ganze Anzahl der in dieser Philosophie behandelten Probleme weder unmittelbar noch mittelbar den Bereich der Glaubens- und Sittenlehre und ist deshalb von seiten der Kirche der Erörterung der Gelehrten ohne Einschränkung anheimgestellt. Aber in bestimmten anderen Fragen, besonders in bezug auf die eben genannten Prinzipien und grundlegenden Lehrsätze, besteht diese Freiheit nicht. Selbstverständlich kann man auch in diesen wesentlichen Fragen der Philosophie ein passenderes und reicheres Gewand geben und eine Sprache für sie schaffen, in welcher der philosophische Gedanke treffenderen Ausdruck findet; man mag sie von schulmäßigem Beiwerk befreien, das sich als ungeeignet erwiesen hat; auch gibt es echte Errungenschaften der voranschreitenden Forschung, die man mit entsprechender Umsicht in sie einbauen kann. Unter keinen Umständen aber ist es erlaubt, sie zu stürzen, sie durch irrige Prinzipien zu fälschen, oder sie nur als ein zwar großartiges, aber veraltetes Denkmal einer früheren Geisteshaltung zu betrachten. Die Wahrheit ändert sich nicht von Tag zu Tag, und auch ihre gesamte philosophische Darlegung unterliegt nicht solcher Wandelbarkeit, denn bei ihr handelt es sich vorzüglich um die dem menschlichen Geiste durch sich selbst einleuchtenden Prinzipien oder um Sätze, deren Geltung von der Weisheit der Jahrhunderte verbürgt und durch die Übereinstimmung mit der Offenbarung bestätigt wird. Was immer der ehrlich forschende Geist an neuen Wahrheiten entdecken mag, kann der schon erkannten Wahrheit unmöglich widersprechen; denn Gott, die höchste Wahrheit, hat die menschliche Vernunft nicht dazu geschaffen und unter seine Führung gestellt, daß sie den einmal erworbenen gültigen Erkenntnissen jeden Tag neue entgegensetzt, sondern daß sie, wenn sie geirrt hat, den Irrtum überwindet; wo sie Wahrheit besitzt, auf der früher erreichten die neugefundene aufbaut, in gleichem Ordnungsgefüge, wie es sich als innere Struktur der Wirklichkeit selbst enthüllt hat, die die Quelle wahrer Erkenntnis ist. Deshalb darf der christliche Philosoph oder Theologe nicht eilfertig oder leichthin Ideen übernehmen, die sich täglich als neuentdeckte Wahrheit anbieten; sondern er hat sie mit großer Sorgfalt zu durchdenken und mit geeichten Gewichten zu wägen: sonst würde er die schon erkannte Wahrheit verlieren oder verfälschen und dadurch selbst den Glauben großer Gefahr und wesentlichem Schaden aussetzen.
31 Diese Überlegungen lassen leicht verstehen, warum die Kirche für ihre künftigen Priester eine philosophische Bildung „nach der Methode, der Lehre und den Grundsätzen des Engelgleichen Lehrers" 8 fordert. Aus der Erfahrung von Jahrhunderten weiß sie genau, daß Denkart und Methode des Aquinaten für die Ausbildung der Studierenden ebenso wie für die Forschung eine ganz hervorragende Bedeutung hat; sie kennt die wundervolle Harmonie, in der seine Lehre mit der Offenbarung zusammenklingt; sie ist überzeugt, daß seine Gedanken in wirksamster Weise der Sicherung der Glaubensgrundlagen und der Verarbeitung der Ergebnisse gesunden Fortschrittes dienen können 9.
32 Deshalb ist es tief zu beklagen, daß die in der Kirche übernommene und anerkannte Philosophie heute von manchen verachtet wird. Ungescheut erhebt man gegen sie den Vorwurf, sie sei veraltet in der Form und rationalistisch in ihrer Denkart. Man erklärt, zu Unrecht vertrete diese Philosophie die Möglichkeit einer unbedingt sicheren Metaphysik; dem stellt man die Behauptung entgegen, die Wirklichkeit, besonders die transzendente, lasse sich in unserer Begriffssprache nicht besser zum Ausdruck bringen als durch verschiedenartige Aussagen, die ungeachtet einer gewissen Widersprüchlichkeit doch einander ergänzten. Nach der in solchen Kreisen vorgetragenen Meinung ist die an den kirchlichen Hochschulen gelehrte Philosophie mit ihrer deutlich umschriebenen Fragestellung und Problemlösung, mit ihren genauen Begriffsbestimmungen und klaren Unterscheidungen zwar von Nutzen als Vorbereitung für das Studium der scholastischen Theologie und hervorragend der Mentalität des mittelalterlichen Menschen angepaßt; aber sie vermittelt nicht die philosophische Methode, die unserer modernen Kultur und ihren Bedürfnissen entspricht. Ein weiterer Einwand besagt, daß die philosophia perennis nur eine Essenzphilosophie, eine Philosophie unwandelbarer Wesenheiten sei, während das Denken sich heute bemühen müsse um die „Existenz“ des Einzelnen und um das immer in Fluß befindliche Leben. Mit der Geringschätzung dieser Philosophie verbindet man das Lob anderer, antiker oder moderner, östlicher oder westlicher, und es hat den Anschein, als ob man sagen wolle, jede beliebige Philosophie oder Weltanschauung sei nach ein paar vielleicht nötigen Verbesserungen oder Ergänzungen mit dem katholischen Dogma vereinbar. Daß diese Behauptung unannehmbar ist, sollte für einen Katholiken außer Zweifel stehen, besonders wenn es sich um Systeme handelt, die den Immanentismus, den Idealismus, den historischen oder dialektischen Materialismus vertreten, oder schließlich den Existentialismus, mag er offen atheistisch sein oder wenigstens die Gültigkeit metaphysischer Schlußfolgerung bestreiten.
33 Endlich wirft man der an den kirchlichen Schulen gelehrten Philosophie vor, sie gebe dem menschlichen Erkenntnisvorgang eine einseitig intellektualistische Deutung, ohne die Funktion des Wollens und Fühlens dabei hinlänglich zu berücksichtigen. Dieser Vorwurf entspricht nicht den Tatsachen. Die christliche Philosophie hat niemals bestritten, daß für die Erkenntnis und Aneignung des Religiösen und Sittlichen die gute Gesamtverfassung der Seele von größter Wichtigkeit ist; nach ihrer beständigen Lehre kann das Fehlen solcher seelischer Haltungen zur Folge haben, daß die Vernunft durch Leidenschaft und sittlich schlechte Willensrichtung so verdunkelt wird, daß sie das Rechte nicht mehr sieht. Der hl. Thomas, der Doctor communis, geht noch weiter. Nach ihm ist der geistigen Erkenntniskraft die Kenntnisnahme der höheren Werte der sittlichen Ordnung in Natur und Übernatur in eigener Weise möglich, wenn die Seele eine Art natürlicher oder gnadenhaft geschenkter Wesensverwandtschaft des mitschwingenden Fühlens mit diesen Werten verspürt 10. Selbstverständlich muß eine solche auch nur dunkel ahnende Erfahrung für die gedankliche Erschließung eine große Hilfe bedeuten. Doch dabei bleibt eine Unterscheidung wesentlich. Man kann weithin die Förderung anerkennen, die die Vernunft beim Erwerb einer sicheren und festen Erkenntnis sittlicher Wahrheiten von seiten der Gesamtrichtung des Wollens und Fühlens erfährt. Aber damit ist nicht behauptet, was diese neue Theorie will. Sie vermengt in unzulässiger Weise Erkenntnis und Willensakt und erklärt, daß dem Wollen und Fühlen als solchem eine intuitive Fähigkeit zukomme; da der Mensch mit schlußfolgerndem Denken die objektive Wahrheit mit Sicherheit zu erkennen nicht imstande sei, sehe er sich an seinen Willen verwiesen und treffe in freier Entscheidung seine Wahl unter den entgegengesetzten Meinungen.
34 Es ist begreiflich, daß durch solche neue Thesen zwei philosophische Gebiete bedroht sind, die ihrer Natur nach mit der Glaubenslehre in engem Zusammenhang stehen, nämlich die philosophische Gotteslehre und die Ethik. Man behauptet, sie seien nicht dazu bestimmt, sichere Erkenntnis über Gott oder ein anderes erfahrungsjenseitiges Sein durch Beweis zu begründen; ihre Aufgabe sei vielmehr nur, zu zeigen, wie die Lehre des Glaubens über Gott und sein sittliches Gesetz mit den Bedürfnissen des Lebens vollkommen zusammenstimme und deshalb von allen angenommen werden müsse, um der Verzweiflung zu wehren und das ewige Heil zu gewinnen. Das alles steht in offenem Gegensatz zu dem, was in den Lehräußerungen Unserer Vorgänger Leos XIII. und Pius' X. gesagt ist, und läßt sich mit den Entscheidungen des Vatikanischen Konzils nicht in Einklang bringen. Solche Verirrungen wären nicht zu beklagen, wenn allgemein auch in philosophischen Belangen dem kirchlichen Lehramt die gebotene Ehrfurcht und Bereitwilligkeit des Hörens entgegengebracht würde. Denn nach göttlicher Anordnung ist ihm nicht nur die Hut und die Auslegung des offenbarten Wahrheitsgutes anvertraut; es hat auch über die Philosophie zu wachen, damit nicht durch falsche Ansichten den Dogmen der Kirche Abbruch geschieht.
35 Noch bleibt einiges über Probleme der positiven Wissenschaften zu sagen, die in einer mehr oder weniger engen Beziehung zu christlichen Glaubenswahrheiten stehen. Von verschiedenen Seiten wird die dringende Forderung erhoben, daß der Katholizismus den wissenschaftlichen Ergebnissen auf diesen Gebieten in möglichst großem Umfange Rechnung trage. Diese Forderung ist gewiß anzuerkennen, wo es sich um wirklich erwiesene Tatsachen handelt; aber sie ist mit Vorsicht aufzunehmen, sobald Hypothesen in Frage stehen, durch welche die in Schrift oder Tradition enthaltene Lehre berührt wird, und zwar auch in dem Falle, daß diese Hypothesen in gewisser Hinsicht wissenschaftlich gerechtfertigt erscheinen. Sie bleiben auch dann nur Vermutungen; und sobald sie in unmittelbarem oder mittelbarem Gegensatz zu offenbarten Wahrheiten stehen, ist die Forderung auf ihre Berücksichtigung unerfüllbar.
36 Deshalb hat das Lehramt der Kirche nichts dagegen einzuwenden, daß die Entwicklungstheorie nach dem augenblicklichen Stande der Naturwissenschaften und der Theologie von Fachleuten beider Gebiete zum Gegenstand der Forschung und wissenschaftlichen Diskussion gemacht wird; dabei handelt es sich um die Entstehung des menschlichen Leibes und seiner Entwicklung aus niederen organischen Formen, während die unmittelbare Erschaffung der menschlichen Seele durch Gott als Glaubenswahrheit festzuhalten ist. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß die Gründe des Für und Wider mit dem schuldigen Ernst und maßvoller Zurückhaltung geprüft und gewertet werden. Über allem aber steht die Pflicht der Bereitschaft zur Unterwerfung unter das Urteil der Kirche, die in Christi Auftrag die Heilige Schrift verbindlich auslegt und für die Bewahrung der Glaubenswahrheiten sorgt 11. Dennoch kommt es vor, daß an die Stelle dieser Freiheit wissenschaftlicher Auseinandersetzung unverantwortliche Willkür gesetzt wird. Man tut, als ob die Entwicklung des rnenschlichen Leibes aus schon lebendem Stoff durch die bisherigen Funde und die aus ihnen gezogenen Schlüsse bereits endgültig bewiesen sei, und als ob auf diesem Gebiete von seiten der Offenbarungsquellen gar kein Grund zu größtmöglicher Behutsamkeit vorliege.
37 In bezug auf eine andere Hypothese, nämlich die des sogenannten Polygenismus, besteht für die Gläubigen der Kirche nicht die gleiche Freiheit. Denn ein Katholik kann sich nicht eine Lehre zu eigen machen, in der vertreten wird, nach Adam habe es auf der Erde Menschen gegeben, die nicht von ihm als dem gemeinsamen Stammvater aller durch natürliche Zeugung ihr Leben empfangen haben, oder der Name Adam bezeichne eine Vielzahl von Stammvätern. Es ist nicht zu sehen, wie diese Ansicht vereinbar sein soll mit dem, was die Offenbarungsquellen und die Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes über die Erbsünde sagen. Denn in ihnen wird erklärt, daß die Erbsünde aus der Sünde stammt, die ein bestimmter Mensch, Adam, persönlich begangen hat; daß sie durch die Zeugung auf alle Menschen übertragen wird und so jedes Einzelnen eigene Sünde ist 12.
38 Ähnlich wie in Biologie und Anthropologie werden bisweilen auch in der Geschichtswissenschaft die von der Kirche sorgsam abgesteckten Grenzen nicht beachtet. Besonderen Anlaß zur Klage gibt eine bestimmte Art der Auslegung der geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes, die eine ganz unzulässige Freiheit für sich in Anspruch nimmt. Mit Unrecht beruft man sich dabei auf den noch nicht lange zurückliegenden Brief der Päpstlichen Bibelkommission an den Erzbischof von Paris 13. Denn wie dieses Schreiben ausdrücklich ins Gedächtnis ruft, gehören die elf ersten Kapitel der Genesis in einem wahren, von den Exegeten noch näher zu untersuchenden und zu bestimmenden Sinne zur Literaturgattung der geschichtlichen Bücher, wenn sie auch nicht der Methode der historischen Darstellung entsprechen, wie sie von den großen Geschichtsschreibern des griechischen und römischen Altertums oder von modernen Historikern befolgt wird; diese Kapitel stellen in einer einfachen, bildhaften Sprache, die der Denkweise eines kulturell noch wenig entwickelten Volkes angepaßt ist, die hauptsächlichen Wahrheiten dar, von denen unser ewiges Heil abhängt, und beschreiben in volkstümlicher Weise den Ursprung der Menschheit und des auserwählten Volkes. Wenn aber die alten Hagiographen aus Volkserzählungen geschöpft haben (wie zugegeben werden kann), darf man nie vergessen, daß sie unter dem Beistand göttlicher Eingebung so gehandelt haben; diese Inspirationsgnade hat sie bei der Auswahl und Bewertung solcher Überlieferungen vor jedem Irrtum bewahrt.
39 Die Bestandteile aus Volksüberlieferungen, die in die Bibel aufgenommen sind, dürfen aber nicht mit mythologischen oder ähnlichen Erzählungen gleichgesetzt werden. Denn derartige Dinge entspringen mehr einer ungebunden schweifenden Phantasie als jenem schlichten Wahrheitssinn, der sich in den Heiligen Büchern auch des Alten Testaments so deutlich kundgibt, daß ihre Verfasser den antiken Profanschriftstellern offensichtlich überlegen sind.
40 Die meisten katholischen Gelehrten, von deren Forschungen und Arbeiten das wissenschaftliche Leben an den Universitäten, Seminarien und Ordensschulen getragen wird, haben nichts zu tun mit den Irrtümern, die heute aus Sucht nach neuen Ideen oder auch aus einem Willen zum Apostolat, der das rechte Maß noch nicht gefunden hat, offen oder insgeheim verbreitet werden. Das wissen Wir. Aber Wir wissen auch, daß solche neue Ansichten für die verführerisch werden können, die nicht auf der Hut sind. Deshalb wollen Wir dem Irrtum lieber gleich im Anfang entgegentreten, statt erst auf Heilmittel sinnen, wenn das Übel schon tiefe Wurzeln geschlagen hat.
41 Nach reiflicher Überlegung vor dem Herrn, im Bewußtsein heiliger Pflichterfüllung legen Wir es darum den Bischöfen und den Ordensobern als strenge Gewissenspflicht auf, mit aller Umsicht dafür zu sorgen, daß derartige Ansichten nicht im Unterricht, in Vorträgen und Schriften beliebiger Art vertreten noch auf irgendeine Weise an Kleriker oder Gläubige herangetragen werden.
42 Die Lehrer an kirchlichen Instituten mögen wissen, daß sie das ihnen anvertraute Amt nur dann ruhigen Gewissens ausüben können, wenn sie die von Uns für die Lehre aufgestellten Richtlinien im Geiste des Glaubens annehmen und bei ihrer Lehrtätigkeit genau beachten. Die schuldige Ehrfurcht und Folgsamkeit, die sie in ihrem Wirken dem Lehramt der Kirche entgegenbringen müssen, sollen sie auch in Geist und Herz ihrer Schüler einsenken.
43 Gewiß haben sie mit ihrer ganzen Arbeitskraft um den wissenschaftlichen Fortschritt in den ihnen vertretenen Fächern bemüht zu sein. Aber sie müssen auch dafür sorgen, daß sie die Grenzen einhalten, die Wir zum Schutze der Glaubenswahrheit und der katholischen Lehre gezogen haben. Den neuen Problemen, die die moderne Kultur und der Fortschritt der Zeit aufwerfen, sollen sie sorgfältigste Forschungsarbeit widmen, jedoch mit der klugen Behutsamkeit, die von der Natur der Sache gefordert ist. Schließlich dürfen sie nicht aus falscher Friedensliebe der Meinung Raum geben, die Getrennten und Irrenden könnten auf andere Weise in den Schoß der Kirche zurückgeführt werden als durch die offene Verkündigung der ganzen Wahrheit, wie sie in der Kirche lebt, ohne jede Entstellung und ohne Abstrich.
44 In dieser Hoffnung, in der Uns der Eifer eurer Hirtensorge bestärkt, geben Wir euch allen, Ehrwürdige Brüder, und jedem Einzelnen, eurem Klerus und eurem Volke von Herzen den Apostolischen Segen als Unterpfand der Gnade des Himmels und als Beweis Unserer väterlichen Liebe.
Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 12. August 1950, im zwölften Jahre
Unseres Pontifikates.Papst Pius XII.
ANMERKUNGEN
1 Dz 1786.
2 CIC can. 1324; vgl. Dz 1820.
3 Lk 10, 16.
4 Pius IX., Inter gravissimas, 20. Oktober 1870. Acta I, 260.
5 Vgl. Dz 1782-1784.
6 Vgl. die Enzyklika Mystici Corporis, AAS 35 (1943) 193 f.
7 Vgl. Dz 1796.
8 CIC can. 1366, 2.
9 AAS 38 (1946) 387.
10 Vgl. Thomas v. Aquin, S. th. II. 2, q. 1, a. 4 ad 3; q. 45, a. 2 c.
11
Vgl. die
päpstliche Ansprache an die Mitglieder der Akademie der
Wissenschaften,
30. November 1941, AAS 33 (1941) 506.
12 Vgl. Röm 5, 12-19; Dz 788-791.
13 Vom 16. Januar 1948, AAS 40 (1948) 45-48.